Nichts Neues vom Monster

Nichts Neues vom Monster

Monate nach dem eigentlichen Skandal veröffentlicht der NDR eine halbstündige Dokumentation über den #MeToo-Skandal um Rammstein und die Vorwürfe gegen Till Lindemann. Neue Erkenntnisse sucht man darin vergebens. Stattdessen ist frappant, was der NDR in dieser Doku nicht erwähnt.

Von Bent-Erik Scholz
Es begann am 23. Mai 2023 um 3:54 Uhr und 50 Sekunden. Mit dem Titel ,,Fuck Rammstein" erscheint auf Reddit ein Posting von Shelby Lynn, das Bilder von blauen Flecken und Schilderungen von Gedächtnislücken und einem sexuellen Annäherungsversuch durch Till Lindemann beim Rammstein-Konzert in Vilnius enthält. (Bild 1)


Der Vorwurf: Shelby Lynn sei unter Drogen gesetzt und Till Lindemann zugeführt worden, damit dieser während einer Konzertpause unter der Bühne mit ihr schlafen könnte. Shelby postet einen aufgebrachten, entrüsteten Text im Rammstein-Forum auf der Social-Media-Seite, antwortet auf Kommentare und interagiert mit anderen Nutzern. Der Thread explodiert: binnen weniger Stunden gibt es hunderte Kommentare, nicht wenige fordern Shelby dazu auf, sofort die Behörden zu kontaktieren. Zur Polizei, schreibt sie damals, wolle sie erst später gehen: Sie wolle warten, bis ihre Mutter am nächsten Morgen aufwache, bevor sie Anzeige erstatte. Sie sei besorgt, bei der Behörde wäre niemand der englischen Sprache mächtig. Auf Reddit jedoch ist sie sehr aktiv. Das Rammstein-Konzert in Vilnius ist zu diesem Zeitpunkt seit etwa fünf Stunden vorbei.

Von diesem tatsächlichen Urknall des Rammstein-Skandals erfahren Zuschauer der neuen Dokumentation ,,Rammstein - Die Reihe Null" jedoch nichts. Hier wird als erste öffentliche Äußerung Shelbys zu dem Thema ein Twitter-Post zitiert, drei Tage nach dem Konzert. Dass Shelby sich schon Stunden nach der mutmaßlichen Tat ausführlich online zum angeblichen Tathergang äußerte, wird nicht mit einem Wort erwähnt, obwohl dies mit Sicherheit von Bedeutung für das Verständnis des Falls wäre. Die Macher der Doku waren über diesen Umstand auch bestens informiert: Daniel Drepper, einer der beteiligten Reporter, stand im Bezug auf Shelbys Reddit-Posts im Austausch per Chat mit einem der Administratoren des Rammstein-Forums auf Reddit.

Was auch keine Erwähnung findet, ist ein Bericht einer litauischen Lokalzeitung (Link 1), in der eine Sprecherin der Polizei von Vilnius zitiert wird: die Polizei sei am 23. Mai gerufen worden, Shelby habe den Beamten jedoch mitgeteilt, sie hätte keine Angaben zu machen. Es wurde zu diesem Zeitpunkt auch keine Anzeige erstattet. Da hatte Shelby auf Reddit schon zahlreiche Kommentare veröffentlicht, hatte dort angegeben, ,,alles dokumentiert" zu haben (Bild 2), jedoch noch gar nicht auf die Idee gekommen zu sein, im Krankenhaus vorstellig zu werden (Bild 3). Also: Einerseits will Shelby möglichst viele Beweise sammeln, geht andererseits nicht zuerst zur Polizei oder ins Krankenhaus, kommt nicht einmal auf diese Idee, sondern wendet sich zuerst ans Internet. Dort bewegte sie sich keinesfalls anonym: auf ihren Accounts waren ihr Gesicht sowie ihr Name für alle Betrachter sichtbar. Das oft gehörte Argument, Opfer sexueller Übergriffe fürchteten sich vor der Kontaktaufnahme mit den Behörden, da sie dadurch erkennbar würden, kann hier also nur bedingt angewandt werden. Dieser Umstand ist mindestens bemerkenswert, in der Doku jedoch findet er schlichtweg nicht statt.


Sowieso bringt die groß angekündigte halbstündige Sondersendung des Investigativmagazins Panorama keine neuen Erkenntnisse. Größere Blöcke der Sendung bestehen aus einem Interview mit Shelby Lynn. Dieses jedoch ist über ein halbes Jahr alt: es wurde am 8. Juni 2023 von der BBC veröffentlicht. (Link 2) Einen Hinweis auf das ursprüngliche Ausstrahlungsdatum sowie auf die eigentliche Quelle, nämlich den britischen Fernsehsender, sucht man vergebens. Der einzige Hinweis findet sich im ersten Satz der Doku: ,,Die Nordirin Shelby Lynn, zwei Wochen nach dem Rammstein-Konzert, das ihr Leben verändert hat." Für den durchschnittlichen Betrachter der Doku muss dieses Gespräch mit der Hauptbeschuldigerin jedoch zwangsläufig deutlich gegenwärtiger wirken, schließlich bauen große Teile dieser neuen Dokumentation darauf auf. Um festzustellen, dass man hier kalten Kaffee eingeschenkt bekommt, muss der Durchschnittszuschauer hierbei wohl vor allem auf die Haarfarbe der Protagonistin achten: Im Interview noch schwarz mit der roten Strähne im Pony, auf aktuellen Bildern komplett rot.

Ich erinnere mich gut an die ersten Tage dieses Skandals, den ich über das Internet so hautnah, wie es Shelbys Posting-Frequenz zuließ, verfolgte. Am 24. Mai, noch vor Shelbys erstem Twitter-Posting, schrieb ich ihr eine Instagram-Nachricht, in der auch ich sie dringend bat, so schnell wie möglich die Polizei zu kontaktieren (Bild 4). Die scheinbare Grausamkeit, mit der hier angeblich vorgegangen wurde, schockierte mich zutiefst.


Dabei war die so genannte ,,Row Zero" spätestens seit Februar 2020 kein Geheimnis mehr: Seinerzeit ging Till Lindemann mit seinem Nebenprojekt, der Band LINDEMANN, die er gemeinsam mit dem schwedischen Metal-Musiker Peter Tägtgren gegründet hatte, auf Europatournee. Am Ende der Konzerte zeigte er wiederum ein Backstage-Video einer Rammstein-Show, das ihn während der mittlerweile berüchtigten Konzertpause in der heute so getauften ,,Suckbox" mit zwei Frauen, mutmaßlich Groupies, beim Sex zeigt. Fünf Minuten dauert das instrumentale DJ-Set, während welchem Lindemann sich unter der Bühne befindet. In dieser Zeit lässt er sich von den Frauen oral befriedigen, penetriert sie, zieht sich die Hose wieder hoch und kehrt auf die Bühne zurück, um den Song ,,Deutschland" anzustimmen. Abgefilmt wird das Procedere im Stil eines Stummfilms, die Wiedergabegeschwindigkeit wird erhöht, Filmkörnung und Schwarz-Weiß-Effekte werden über die durch die Beschleunigung lächerlich wirkenden Aufnahmen gelegt, dazu spielt alberne Klaviermusik. Das Livepublikum beim Lindemann-Konzert klatscht im Takt mit, während es den Penis des damals schon stramm auf die 60 zugehenden Sängers übergroß auf der Leinwand bestaunen darf.

Schon damals war die Reaktion innerhalb der Fan-Community sehr gespalten. Gespräche über das so genannte ,,Groupie-System", die Row Zero, gab es spätestens ab diesem Zeitpunkt regelmäßig. Dass Till Lindemann mithilfe von speziell dafür engagierten Casting-Directors junge Frauen, die einem speziellen Typus entsprach zu Aftershow-Partys einlud, um mit ihnen Sex zu haben. War dieses Video, welches live während eines Konzerts gezeigt wurde, nur provokant oder schon geschmacklos? Und ist es nicht ziemlich erbärmlich, wenn ein alternder Rockstar sich inbrünstig in das muffig-machohafte Klischee des ,,Sex, Drugs, Rock'n'Roll" stürzt und sich damit vor seinen Fans offenbar auch noch brüstet? Die Vorstellung, dass ein sechzig Jahre alter Mann eigene Mitarbeiter dafür beschäftigt, dass sie ihm regelmäßig Frauen Anfang zwanzig vor die Flinte legen, ist lächerlich und traurig. Sympathisch macht dieses absurde Gebaren den Rammstein-Sänger nicht. Aber ist es illegal?

Es ist das Comeback eines altbekannten Problembären, über den die öffentliche Debatte bisher nur sehr halbherzig und von Vorbehalten und Vorurteilen belegt geführt wurde: die sexuelle Dynamik zwischen Star und Fan, die Groupie-Kultur, die seit über fünfzig Jahren fester Bestandteil insbesondere der Musikindustrie ist. Iggy Pop sang 1996 die Zeilen ,,I slept with Sable when she was 13 / Her parents were too rich to do anything", und bezog sich dabei auf Sable Starr, die in den Siebzigerjahren Szenebekanntheit als minderjähriges Groupie von Musikern wie David Bowie oder Rod Stewart erlangte. Der Aerosmith-Sänger Steven Tyler erlangte in den 70er-Jahren mit elterlicher Erlaubnis die Vormundschaft über die damals sechzehnjährige Julia Holcomb, sodass er diese über die Grenzen der US-Bundesstaaten mit auf Tournee nehmen konnte. Dagegen wirken die Vorwürfe gegen Rammstein, die in der Dokumentation aufgegriffen werden, nahezu zahnlos.

Was wird hier beschrieben? Der NDR interviewt Anna Yakina, die als russische Musikmanagerin vorgestellt wird, welche unter anderem das Nebenprojekt ,,Lindemann" auf Tour begleitete. Sie schildert, wie Fans in die Garderobe von Till Lindemann geführt wurden, der dann die Tür hinter sich abschloss. Dies sei ihr merkwürdig vorgekommen. Was der NDR nicht berichtet: Anna Yakina ist nicht einfach irgendeine zufällig dahergelaufene Augenzeugin, sondern war aus einem ganz bestimmten Grund auf der Lindemann-Tour 2020 dabei. Sie ist die Partnerin von Peter Tägtgren, der das Projekt gemeinsam mit Till Lindemann anführte. (Bild 5) Die beiden Künstler lösten im Jahr 2020 ihre Zusammenarbeit auf. Hier wird also die Partnerin des ehemaligen Bandkollegen, der sich mit dem Protagonisten offenbar überworfen hat, interviewt, ohne dass auf diese Beziehung hingewiesen wird.


Unabhängig davon jedoch ist das, was sie schildert, vielleicht unsympathisch, aber in keiner Weise juristisch von Belang. Shelby Lynn konnte den Vorwurf, man habe sie unter Drogen gesetzt, nie erhärten, gab aber wiederholt zu Protokoll, Lindemann habe sie nie angefasst, als sie Sex mit ihm ablehnte. Andere Frauen beschrieben die sexuelle Erfahrung mit Lindemann im Nachhinein als unangenehm, gaben jedoch auch an, dass der Sex einvernehmlich gewesen sei.

Eine Interviewpartnerin sagt den Satz ,,Es war auch keine Situation, in der ich hätte Nein sagen können". Dieser Satz bleibt unkommentiert, dabei ist fraglich, wie das gemeint ist. Handelte es sich hierbei um ein Gefühl oder eine Tatsache? Woran machte sie fest, nicht Nein sagen zu können? Shelby Lynn konnte es angeblich trotz mutmaßlichen Drogeneinflusses, und ihr geschah nichts. Kayla Shyx schilderte, dass sie die Aftershow-Party ohne Probleme vorzeitig verließ, als die Situation ihr merkwürdig schien.

Von der Lindemann-Tour 2020 gibt es ebenfalls eine Schilderung der Sängerin Jadu Laciny, die nicht im Verdacht steht, antifeministische Kampagnen anzuführen: Jadu begleitete die Tournee eineinhalb Monate lang als Support Act. Was sie beschreibt, ist im Vergleich zur Aussage der Frau des verflossenen Kreativpartners diametral unterschiedlich: die Türen hätten jederzeit offen gestanden, Lindemann und seine Entourage seien ,,respektvoll, höflich und umsichtig mit den Menschen umgegangen". Wohl gemerkt: Jadu Laciny und Anna Yanika beschreiben jeweils dieselbe Konzerttournee. (Bild 6 & 7)


Auch hiervon: kein Wort in der NDR-Dokumentation, obwohl die Panorama-Redaktion, die den Halbstünder produzierte, zweifelsohne über diese Statements und Zusammenhänge bestens unterrichtet war. Wäre es nicht Aufgabe eines investigativen Recherche-Teams, auch solche Widersprüche offen zu kommunizieren? Warum geschieht dies nicht? Wäre keine Zeit dafür gewesen, dies in der Doku zu erzählen? Sollte Zeitnot die Begründung für das Weglassen solcher relevanten Bemerkungen sein, so hätte ich dem NDR einen Vorschlag zu machen: as eine oder andere an O-Ton-Material von Rammstein-Fans hätte man sich sparen können.

Hier nämlich entsteht das Gefühl, dass die Auswahl der Fans, die in der Doku zu Wort kommen dürfen, auf ein spezifisches, klischeehaftestes Bild vom gemeinen Rammstein-Fan fußt. Weitestgehend desinteressierte bis dismissive Männer, mindestens einer davon offensichtlich geistig eingeschränkt, dürfen als Repräsentanten für eine sowieso grobschlächtige, primitive, deutschtümelnde Hörergemeinschaft der bösen Teutonen-Band.

Die Aufnahmen von Fan-Interviews fanden vor den Konzerten im Berliner Olympiastadion statt. Auch ich habe eine Reporterin des RBB zu einem Dreh am Olympiastadion begleitet. (Bild 8)


Das Bild, was sich mir dort von den Besuchern bot, unterscheidet sich von dem, was ich in der Doku sehe. Vor Ort nämlich begegneten mir vor allem sehr nachdenkliche Männer, die glaubhaft ihr moralisches Hadern zum Ausdruck brachten. Darunter auch jüngere, auch viele queere Menschen. Ein Gesprächsgast, der sich als Till Lindemann verkleidet hatte, blieb mir nachdrücklich in Erinnerung. Auf die Demonstration, die einige hundert Meter weiter stattfand, angesprochen, brachte er sein Verständnis, ja sogar seine Unterstützung für die dort Protestierenden zum Ausdruck. Er verstand, dass seine Lieblingsband zum Symbol einer durchaus relevanten Debatte wird. Tatsächlich erlebte ich abtuende, verharmlosende Kommentare zur Causa Lindemann eher seitens der weiblichen Konzertbesucher.

Natürlich ist das anekdotische Evidenz, dem NDR mögen einfach andere Leute begegnet sein, und ich will nicht behaupten, dass es unter den Zehntausenden Besuchern nicht auch eine Menge trotziger, potenziell reaktionärer Machos gegeben hat, die das alles für eine Verschwörung gegen ihre Lieblingsband halten. Denn an eine solche Verschwörung glaube ich auch nicht, im Gegenteil, ich hielte es für völlig illusorisch, davon auszugehen.

Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich die öffentliche Wahrnehmung Rammsteins deutlich gewandelt. Die deutsche Medienöffentlichkeit hat der Band endlich verziehen, dass sie der erfolgreichste Kulturexport des Jahrtausends geworden ist. Dass die Musik nicht nur auf ihre Stumpfheit und Primitivität zu reduzieren ist, sondern der Prüfung auf einen doppelten Boden durchaus standzuhalten weiß, mussten Kulturredakteure landauf, landab spätestens durch den künstlich generierten Skandal um das Musikvideo zu ,,Deutschland" lernen, als die inländische Medienöffentlichkeit mutwillig in die Falle hineinrannte, die die Band ihnen gegraben hatte. Es kam zu einem Ausnahmezustand im deutschen Feuilleton: gewisse Protagonisten sahen sich gezwungen, offen einen Irrtum einzugestehen. Rammstein waren zuletzt weniger die Unliebsamen, Unbequemen, de Wahrheitssager im Sinne der AfD'schen Robin-Hood-Romantik. Sie waren im Gegenteil viel eher Everybody's darling. Mit renommierten Musikpreisen dotiert, von Kulturjournalisten mit Wohlwollen betrachtet, Teil des Mainstreams mit Filmpremieren in der Volksbühne, eigenen Sendungen im öffentlich-rechtlichen Radio, und populären Buchveröffentlichungen in renommierten Verlagen. Nach Aktionen wie dem Schwenken der Regenbogenflagge während eines Konzerts in Polen konnte man der Band sogar ein progressives Image attestieren.

Meine Vermutung ist, dass es um gänzlich andere Impulse geht: um das Einreißen von Ikonen in einem Kulturkampf ,,alt gegen jung". Dies ist prinzipiell kein neues Phänomen. Dass die alten Denkmäler zerschlagen werden, um neue Vorbilder und Galionsfiguren zu schaffen, war schon immer Teil der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung. Der Unterschied jedoch ist die Methodik, die sich durch technischen Fortschritt radikalisiert hat. Dadurch, dass sie dem Einzelnen das Potenzial bietet, enorme Macht zu erlangen, wird die Unantastbarkeit der Ikone schrittweise unterminiert. So ist es heute nicht mehr undenkbar, dass Werke ihrer Zeit abgeändert werden, um einem neuen Zeitgeist angepasst zu werden. Bisher werden diese Debatten nahezu ausschließlich zu Kinderbüchern geführt, aus denen veraltetes Vokabular getilgt werden soll. Dieser Mut zum Revisionismus degradiert diese Bücher zu Gebrauchsliteratur, die sich dem Publikum zu fügen haben. Das Neue soll das Alte nicht mehr nur ablösen, sondern ersetzen oder gar verschlucken. Es ist die Lust daran, den König zu stürzen, derselbe Impuls, der Royalisten an den Unwirren der Beziehungen im Britischen Königshaus fasziniert. Es ist Klatsch und Tratsch, Schadenfreude mit extremeren Mitteln.

Doch auch etwas anderes ist nicht gänzlich unerheblich. Stellen wir uns die Frage: Wozu wird die Geschichte um Till Lindemann neu aufgebrüht, wo die juristischen Tatsachen längst bekannt sind und sich praktisch seit Herbst 2023 keine neuen Erkenntnisse ergeben haben? Die Recherchedauer kann es nicht sein, da ja alle aufgegriffenen Informationen öffentlich schon lange zugänglich waren. Vielmehr wirkt es so, als ginge es darum, den Fall wieder ins Gedächtnis zu rufen. Aber wozu sollte man das tun? Die anstehende Rammstein-Konzerttournee kann dafür nicht der Grund sein, es bringt dem NDR ja nichts, wenn für diese Konzerte weniger Karten verkauft werden. Warum also sollen wir uns sonst gerade jetzt an Till Lindemann erinnern?

Ich möchte nichts unterstellen, ich kenne die Beteiligten nicht und habe nur äußerst oberflächliche Einsicht in die Prozesse hinter der Aufarbeitung dieses Skandals. Doch es ist bemerkenswert, dass Daniel Drepper, der diese Recherche seit Beginn betreute und auch maßgeblich an der neuen NDR-Doku beteiligt war, in wenigen Wochen ein Buch herausbringt: ,,Row Zero - Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie" soll Ende Mai erscheinen. Und natürlich kann das ein glücklicher Zufall sein, dennoch: Daniel Drepper wird sicher nicht unglücklich darüber sein, dass kurz vor seiner Buchveröffentlichung ausgerechnet seine eigene Dokumentation zum Thema seines Buches auf einem prominenten Sendeplatz im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gelaufen ist.

27.03.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
Kommentare
  • Manuel Kamps
    28.03.2024 12:13
    Hallo und Danke für die differenzierte Sichtweise.
    Für mich hat die Debatte über die Strafbarkeit das verhindert, was einer Aufklärung/Diskussion bedurft hätte: Das sexuelle Missverhältnis zwischen Star und Groupie sowie der Umgang mit Sexualität in diesem Kontext.
    Die Vermischung von Kunst und Macht(missbrauch) ist für mich nach wie vor diskussionswürdig.
    Hinzu kommt die Vermischung von inszenierten Bildern ("Till the end") und Realität in der öffentlichen Wahrnehmung, die das eigentliche Problem verzehrt und schwächer erscheinen lässt.
    Für mich darf Kunst alles - solange die Mitwirkenden ein Teil davon sein wollen und die Inszenierung nicht als persönliche Befriedigung benutzt werden. Hier ziehe ich meine moralische Grenze.
    Ob es sich bei plakativ dargestelltem Sex um Kunst oder vielmehr um Fetisch bzw. erfreute Männerfantasien handelt, darf diskutiert werden. Und ganz ehrlich: Wirklich wahnsinnig nachdenkenswert und wertvoll finde ich es nicht, wenn man seinen Penis durch ein Buch steckt sich oral befriedigt lässt.

    Klar ist: Sexualisierung von allen, die an Kunst mitwirken zum Zwecke des Künstlers gehört für mich in den Diskurs.
    Und es stimmt mich traurig, dass 2023 in der Berichterstattung über Till Lindemann da eher kontraproduktiv war.
  • Sinthoras_96
    28.03.2024 09:30
    Es wird auch so einiges anderes nicht erwähnt in dieser Doku.

    Der Fall Cynthia war ja auch schon Teil der Reportagen in Textform. Dort wurde geschildert, dass sie aufgrund einer Endometriose Erkrankung beim S*x grundsätzlich sehr oft blutet.

    Hier in der Videoreportage wird einfach nur die Info gedroppt, dass sie nach dem S*x geblutet habe. Das wirkt auf den uninformierten Zuschauer so, als wäre sie stumpf gesagt von Lindemann hart blutig gef*ckt worden. Das empfinde ich mit dem Wissen über die eigentliche Ursache für diese Blutung als eine absolute Unverschämtheit und extrem bösartiges Framing der Journalisten.

    Dann bezüglich Peter Tägtgren und seiner Frau: Es wird ja nicht nur verschwiegen, dass es seine Frau ist (im Übrigen auch in dem zugehörigen Podcast der Tagesschau, wo man Hintergründe über die Recherchen erfahren sollte). Es wird ja in der Reportage auch noch extra betont, dass die Fans bei der Tanzeinlage in Unterwäsche in der Kugel mit Lindemann aufgetreten sind. Aber wer war denn noch mit in der Kugel? Ahja, Peter Tägtgren. Das wirkt schon ziemlich lächerlich, wenn man dann seine Frau in der Reportage moralisch den Zeigefinger erheben lässt.

    Es ist eigentlich schon skandalös, wie diese Verbindung verschwiegen wird. Im zugehörigen Podcast wird sogar extra noch gesagt, dass "Lindemann" ein Solo Projekt von TL wäre. Das ist einfach gelogen. Das Ding war 50/50 Lindemann/Tägtgren. Wahrscheinlich hatte er in der Zeit von 2015 bis 2020 mehr Zeit mit TL verbracht als die ganzen anderen Rammstein Mitglieder, da Rammstein da ja relativ inaktiv waren. Ein Interview mit seiner Frau wäre genauso wie ein Interview mit den Frauen der anderen Rammstein Mitglieder. Da würde man das sicherlich nicht unerwähnt lassen. Warum also hier?

    Weil dann die zentrale Interviewpartnerin selbst komplett unglaubwürdig rüberkommt.


    Die ganze Reportage ist einfach nur komplett lächerlich. Weglassen von Fakten und bösartiges Framing vor dem Herrn. Und dann wundern sich die Medien, wenn Leute ihnen nicht mehr vertrauen oder für sowas keine GEZ mehr zahlen wollen.
  • Mr.T
    27.03.2024 21:55
    Gut recherchierter Artikel zu einer schwachen, sehr einseitigen Reportage. Mutig geschrieben, vielen Dank dafür.
  • Steffen Rauth
    27.03.2024 17:31
    Bemerkenswerter Text. Danke
  • Andi Gaerisch
    27.03.2024 13:21
    Also ich glaube, es geht hierbei ohnehin nicht mehr um die Frage nach juristischen Aspekten. Es geht um die Hinterfragung dieses Casting-Systems. Wobei an einer Stelle gesagt wird, die Frauen wären "gedrängt" worden, in einen Raum zu gehen - was für mich "gegen ihren Willen" bedeutet. Warum wird das nicht präziser beschrieben? Was bedeutet "drängen" genau? Stoßen? Bedrohen? Da sind wir evtl. doch wieder im Juristischen. Was auch zu wenig Beachtung findet: Warum wird immer nur das non-verbale "Nein" in den Mittelpunkt gerückt? Wenn eine Frau nichts mehr sagt, der Körper steif wie ein Brett, sie blutet hinterher mutmaßlich, hat dann nicht auch ohne ausgesprochenes "Nein" eine juristisch relevante Sache stattgefunden? In diesem Zusammenhang hätten die Macher auch mehr auf das sogenannte Starstruck-Phänomen eingehen können. Für mich hört sich das auf den ersten Blick bemerkenswert an, vor einem Star zu erstarren, nur weil er bekannt ist und ich seine Kunst sehr schätze. Aber leider wird das nur sehr am Rande erwähnt. Machtmissbrauch generell zu beurteilen, finde ich schwierig - wie stark wirkt denn die Macht im Einzelfall? Ab welchem Promistatus besitzt man diese Macht? Wie definiert man Macht, wenn derjenige, dem sie zugeschrieben wird, keine faktische Entscheidungsgewalt hat über Menschen (Fans)? Habe ich auch schon Macht, wenn ich superhübsch oder unfassbar charmant bin und dadurch meine Mitmenschen mich anziehend finden, mir geradezu verfallen? Ich habe darüber hinaus das Gefühl, dass junge Menschen in ihrer Selbstbestimmheit und Aufgeklärtheit hier etwas unterschätzt werden. Vor Jahrzehnten hat der Gesetzgeber aus guten Gründen 18 Jahre als Volljährigkeit festgelegt, seitdem ist die Gesellschaft allerdings noch viel, viel aufgeklärter und achtsamer geworden, es wird vielmehr darüber erzählt, dass man vorsichtig sein sollte, mit wem man was macht. Also einen Informationsmangel sollte es hier nicht geben. Ich finden die Jungen von heute durchaus reif und achtsam - und nicht so leicht aus dem emotionalen Takt zu bringen.
  • Danae
    27.03.2024 13:14
    Excellent work and article. Thank you.
Schreibe einen Kommentar
Datenschutzhinweis
The same faces always follow me on the streets of Berlin: Marie-Agnes Strack-Zimmermann in the Christian Lindner memorial black and white; Sahra Wagenknecht, who has only mastered a single facial expression in photos for fifteen years and is not running at all in the European elections; or Katharina Barley, who is apparently so unknown as the top candidate for the European elections that Olaf Scholz is standing by her side on the posters, so that the passing mob at least develops a rough idea of what this mysterious Ms. Barley is all about.

However, it's also exciting who doesn't advertise with the faces of their candidates: the CDU knows full well that it can't win much ground with the likeness of Ursula von der Leyen. The Christian Democrats are focusing on their core competence: airy casings that somehow sound delicious, the potato soup among the slogans, consisting of empty carbohydrates and still warm. "For a Germany in which we live well and happily" was the motto of the 2017 federal election. Today: "For a Europe that protects and benefits." Sexy.

First and foremost, we are dealing with great theater. The Germany in which we live so well and happily believes that its population has very little influence over their own interests. We are free to change staff every four years, although the overall shifts are rather manageable in most cases due to the five percent hurdle - much more than that is up for debate. Once they have made themselves comfortable in their seats, the politicians primarily do what they want. If they do nonsense, you have to wait until the next election to be able to sanction them for it. The population is only allowed to participate in the debate on Twitter or TikTok.

There are no means of driving out a politician who throws his principles and election promises overboard in a very short space of time - otherwise the Green faction in the Bundestag would be significantly smaller today. In addition, there is the planned electoral law reform to reduce the size of the Bundestag, which, however, primarily targets direct mandates from smaller parties. Here alone one could speak of a gross break with the will of the voters, after all, the common voter is not just there to shift percentages, but to make his or her voice heard.

The structures at the European level in particular are almost absurdly opaque. At five-year intervals, citizens are counted to cast a vote primarily in favor of leaving them alone for the next five years. There is a good tradition of deporting failed or simply annoying former federal politicians to Brussels in order to keep them busy there with twice the workload of meeting weeks and thus practically silence the local discourse. Meanwhile, the future of all of us is being decided in Europe - and we know next to nothing about it! Via text message, Ursula von der Leyen is costing taxpaying EU citizens billions and billions of euros for a vaccine that over time turned out to be significantly less effective than was initially assumed. A single company benefited greatly from the biggest crisis since the Second World War.

One hears again and again that the legislative periods, especially at the federal level, are too short to actually change anything. We should only elect the German Bundestag every five or even six years to give the poor politicians the time to implement their plans in peace. The logical error here is obvious: governments are completely free at any time to make future-oriented decisions, the benefits of which will only become apparent long after the current legislative period - but they consciously decide against it in order to promote populist fast food based on surveys. to pursue politics that are intended to maintain one's own power.

It is better to push the unpleasant things into the next legislature. After all, you want to decorate yourself with immediate, small successes. However, why this should be a problem for voters is completely unclear. Shouldn't we expect more from our elected representatives to get off their high horse and commit themselves to the German people instead of just keeping their own chair warm? Is it the voter's fault if Lauterbach pulls off a patchwork bureaucratic monster of cannabis legalization in order to be celebrated as a pioneer?

In his well-read pamphlet "Screw Selflove, Give Me Class War," the author Jean-Philippe Kindler describes our democracy as "capitalism with elections." So while the personnel changes, politicians, as soon as they get into positions of power, despite all the loud promises of unshakable ideals, end up serving the corporations. This is rarely as obvious as when the FDP leads the finance ministry. The AfD, which sells itself as social, also repeatedly talks about not wanting to tax wealthy people or companies more heavily under any circumstances. Commitment to the needs of the much-discussed (and rarely actually addressed) "little man" on the ass. In view of the draft law on the Promotion of Democracy Act, which, depending on its interpretation, can also be misused to stifle criticism of the government by citing a threat to the state. Imagine if such a law were in force under an AfD-led government.

Anyone who walks through the streets in Berlin is stared at by posters with slogans such as "Give Prosperity a Voice" (CDU), "Against Hatred and Incitement" or "For Moderation, Center and Peace" (both SPD) - absolutely meaningless turnip stew formulations - or: "Education: first line of defense of democracy." Of course a poster from the FDP, whose top candidate Marie-Agnes Strack-Zimmermann cannot deviate from the war rhetoric even when it comes to educating people to become politically informed, responsible citizens . But it is of course welcome that the FDP wants to work for better education, because things are extremely bad in Germany. There are even said to be well-known female politicians in government parties whose reading skills are apparently so limited that they consider Mother Courage to be a positive identification figure.

As I said, it is true that most governments achieve little that will change the world in the four years they are given. However, that doesn't mean you shouldn't try. Unfortunately, we are observing a completely discouraged government that is not providing any answers to pressing questions about the future. In a rule by the people, we would actually be counted on to assert our civic duty beyond the ballot box to vote on individuals. We have the instrument of the referendum for this purpose. But anyone who walks across the streets in Berlin and observes election posters cannot help but remember the last referendums here in this city:

On May 25, 2014, a referendum was held on the development of Tempelhofer Feld. The development of the popular park planned by the Senate should be prevented by the plebiscite. A majority voted for the referendum and thus for the preservation of Tempelhofer Feld as a local recreation area and historical site. There were last headlines about the planned development of Tempelhofer Feld in autumn 2023, so the referendum is up for discussion.

The referendum on the expropriation of the real estate group Deutsche Wohnen took place during the 2021 federal election. The aim was to break the dominance of corporations like Deutsche Wohnen in order to prevent rents from skyrocketing and to maintain Berlin as a reasonably affordable place to live. As a basic service, apartments should be rented out by the city at controlled prices so that there is no Darwinian struggle for the scarce living space. The referendum received widespread support from the electorate. It has not yet been implemented and is no longer even discussed.

The last Berlin plebiscite was "Berlin 2030 climate neutral". The aim was to formulate a law that would oblige Berlin to comply with certain emission saving measures. The initiators must also have been very aware that the feasibility was only moderately good; the idea was certainly not least to be able to hold the city accountable for past failures. But none of that matters, because the referendum was actively sabotaged by the city of Berlin by not holding it parallel to the repeat election in February 2023, but more than a month later, even though it would have been possible to hold it in February.

The reason that referendums are often combined with elections is that they can increase participation. The only time the German Michel tends not to go to his polling station is for a referendum. If the plebiscite is added when an election is coming up anyway, it will have a huge impact on the number of participants. Scheduling the referendum on the climate law for Berlin on a separate date inevitably meant that the necessary quota was not reached. Here the population was partially denied the opportunity to make their own voice audible in a simple and low-threshold manner.

When Hubert Aiwanger said that the people should "take back democracy," it was treated like a despicable threatening gesture given his unjustifiable missteps in his previous life. But we need to think seriously about the state of a democracy in which we give power to people who can then act with impunity against the will of the voters and even ignore it when it is officially stated. The idea of representative democracy is noble and shows a belief in the good in people, but does not take into account the corruptibility of politicians, which always has to be taken into account in capitalism. When Julia Klöckner, then Minister of Food, praises Nestlé, it should be clear to every responsible citizen that something is wrong here. Whose interests should be represented here?

It is only worth arguing about longer terms of office if at the same time it enables greater participation of the population in other democratic processes. Imagine if we were now tied to the traffic lights for a total of six years instead of four and were practically at its mercy for the entire period when it comes to potentially existential debates such as arms deliveries or military conscription. Stability in a democracy can only exist if the population actually trusts the government and can intervene when that trust wanes. When politicians no longer just use easily digestible phrases and populist theses for election campaign purposes, only to be unable to be warned to comply once they are elected. When corporations, lobby associations and shady interest groups are disempowered. If this succeeds, a government no longer has to be so afraid of the Internet that it would need a law to promote democracy.

05/06/24
*Bent-Erik Scholz works as a freelancer for RBB